Prozessbeobachtung

Am 12. Januar 2024 hat der Prozess gegen die beiden Polizisten, die Ante P. am 2. Mai 2022 am Mannheimer Marktplatz getötet haben begonnen. So ging auch unsere kritische Prozessbegleitung los. Vor dem Gericht waren wir mit einer Mahnwache präsent und haben zum ersten Mal Teile der Ausstellung „Ich will einen Richter!“ analog präsentieren können. Währenddessen wurde im Gerichtssaal verhandelt. Am Sonntag darauf haben wir eine Kundgebung auf dem Marktplatz abgehalten. Dabei haben wir - wie schon so oft - eine Schweigeminute abgehalten und Kerzen und Blumen an der Stelle niedergelegt, an der Ante P. getötet wurde. Im Anschluss sind wir gemeinsam vor das Gericht gezogen, und haben unsere Forderungen und die der Teilnehmer*innen mit Kreide vors Gericht geschrieben.

Unsere Bilanz finden Sie unter folgendem Link: Initiative 2. Mai (01.03.24) Eine Zwischenbilanz.pdf

Prozesstag 1

Was wurde verhandelt

Der Prozess begann mit der Verlesung der Anklageschrift. Der Hauptangeklagte J. sprach in seiner Einlassung von „bedauern“ und sagte, er möchte dafür einstehen, wenn er etwas Falsches getan haben sollte.Der zweite Angeklagte äußerte sich nicht

Zu Beginn des Prozesses wurden auch drei Beweisanträge von den Verteidigerinnen gestellt um zusätzliche medizinische Gutachter*innen vorzuladen. Diese sollen nachweisen, e P. nicht an Erstickung, sondern an Herzversagen durch Vorerkrankungen verstorben sei. Die Blutungen, die durch die Faustschläge des Hauptangeklagten gegen Ante P.s Kopf verursacht wurden, stünden außerdem in keinem Zusammenhang mit dessen Tod. Sein Leben wäre weder durch eine frühere Reanimation, noch durch ein Drehen von der Bauch- in die stabile Seitenlage zu retten gewesen. In einem weiteren Beweisantrag versuchte die Verteidigung den gesamten Prozess an einem „nicht zu heilenden und schwerwiegenden“ Verfahrensfehler scheitern zu lassen, da den Angehörigen von Ante P. als Nebenklägerinnen Akteneinsicht gewehrt worden sei, ohne die Verteidigung im Vorfeld anzuhören. Der Nebenklageanwalt von Ante P.s Mutter widersprach knapp und entschieden, dass keine Beeinträchtigung der Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten vorliege und verwies auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs.

Zwei Zeugen, die das Tatgeschehen miterlebt hatten, bestätigten dabei mehrfach, dass Ante P. nicht aggressiv oder gewalttätig war, sondern lediglich „verwirrt“ und in Ruhe gelassen werden wollte. Er habe es den Beamten lediglich „schwer gemacht“, sich fesseln zu lassen, und die Beamten hätten „viel zu brutal“ und „unnötig“ reagiert. Einer dieser Zeugen, der am 2. Mai 2022 erst 17 Jahre alt gewesen war und den Tod von Ante aus nächster Nähe hatte mit ansehen müssen und sich daraufhin als Augenzeuge selbst bei der Polizei gemeldet hatte, berichtete dass er schon am Tattag auf der Wache unter Druck gesetzt worden war, „keine Falschaussage“ zu tätigen und von den Polizist*innen Strafandrohungen bekommen hätte.

Einschätzung

Die Beweisanträge der Verteidigung zielen darauf ab, das erste medizinische Gutachten zu widerlegen und die Angeklagten von den Straftatvorwürfen der Körperverletzung mit Todesfolge und der unterlassenen Hilfeleistung zu entlasten.

Das mediale Interesse am Prozessauftakt war groß. Der Publikumsraum ist mehrheitlich gefüllt mit Freund*innen der Angeklagten.

Prozesstag 2

Was wurde verhandelt

Die Verhandlung fokussierte das Verhalten von Ante kurz vor seinem Tod. Aufgeklärt werden soll die Frage, ob sich Ante P. gegen eine „Festnahme“ gewehrt hätte. Der wichtigste Zeuge heute, war der behandelnde Arzt von Ante, der während des Geschehens mehrere Meter entfernt stand.

Viele Zeug*innen berichteten von Rufen der Passanten, wie beispielsweise „hört auf“, „lasst ihn in Ruhe“, „was wollt ihr denn mit dem?“, „bringt Wasser“, „er atmet nicht mehr“.

Der Arzt beschrieb Ante P.s Verhalten als defensiv abwehrend, keine gezielten Angriffe und ungefährlich. Die Selbstgefährdung, die der Arzt Ante attestiert hatte, bezog sich auf „handlungsleitenden Wahn“ - als Beispiel argumentierte der Arzt vor Gericht, sei Ante überzeugt gewesen, dass ein Freund am gemeinsamen Arbeitsplatz seine Hilfe benötige, weswegen er dorthin wolle. Dabei hätte er sich in gefährliche Situationen begeben können. Ante P. wollte nicht auf eine geschlossene Station im ZI. Der Arzt beschreibt ihn weiter als „zerfahren“. Er habe misstrauisch gewirkt, als die Polizei mit ihm sprach. Ante P. sei von der Polizei am Arm berührt worden und habe sich weggedreht. Er erklärte, dass er sich bedroht gefühlt habe, aber die Beamten nicht gezielt geschlagen hätte. Viel mehr habe er sich umgedreht und abwehrend mit den Armen um sich gestoßen und sei weggelaufen. Er selbst habe sich von den Polizisten entfernt um die Einweisung vorzubereiten und um von seinem Patienten nicht mit der Situaiton in Verbindung gebracht zu werden, da dies die nachfolgende therapeutische Arbeit belastet hätte. Als er wieder dazukam, lag Ante P. regungslos am Boden. Er ging zuerst davon aus, dass er sich beruhigt habe. Erst nach Zuruf prüfte er die Atmung und wies danach die Beamten an, die Handschellen abzunehmen, weil reanimiert werden müsse. Ein gesondertes Verfahren gegen den Arzt wegen unterlassener Hilfeleistung war zum Zeitpunkt seiner Aussage mit der Auflage einer Zahlung von 8000€ eingestellt worden.

„Und dann ging alles ganz schnell“ beschreibt ein anderer Zeuge, die Situation, als die beiden Polizisten Ante P. auf dem Boden fixieren. Aus unterschiedlichen Zeugenaussagen geht hervor: Ante P. hat am Boden den „Kopf gehoben“ und „wenig Möglichkeiten gehabt sich zu wehren“ und rief „Richter, Richter“. Kurz nach den Schlägen durch einen Polizisten sei Ante P. reglos liegen geblieben. „Er war mucksmäuschenstill“ wird ein Zeuge aus der Vernehmung bei der Polizei zitiert. Die Reanimation sei viel zu spät gewesen, so die Zeug*innen mehrheitlich. Als er dann in der in Bauchlage war, wurde Ante P.s Gesicht von Blut befreit, dabei habe er sich schon nicht mehr bewegt. Bis zur Feststellung, dass er keine Vitalzeichen mehr aufweise und der eingeleiteten Reanimation vergehen weitere Minuten.

Einschätzung

Die Verteidigungsstrategie der Anwälte der zwei Polizisten scheint weiterhin, dem Arzt die Hauptverantwortung für den Tod zu geben. Zeug*innen, die nicht weiß gelesen wurden, sind tendenziell stärker hinterfragt und mit Widersprüchen konfrontiert worden. Kommentare und Reaktionen in diese Richtung waren ebenfalls aus dem Publikum zu vernehmen. Vor allem die Intensität der Situation, wie sehr sich Ante P. wehrte oder nicht wehrte, auch die Einschätzung, wie das Agieren der Polizei zu werten sei, variieren zwischen den Zeug*innen. Zwei wichtige Details wurden aber von jeweils mehreren Zeug*innen bestätigt: Ein Zeuge berichtete, dass er bemerkt hätte, dass Ante P. nicht mehr atmet und daraufhin „er atmet nicht mehr“ geschrien habe. Daraufhin kam die Antwort des auf ihm knienden Polizisten: „Doch, der atmet noch!“. Ein anderer Zeuge bestätigt diesen Wortaustausch. Demnach wurden die Beamten schon frühzeitig auf Ante P.s Zustand aufmerksam gemacht, und hatten dies konsequent ignoriert - dies würde die unterlassene Hilfeleistung bestätigen. Zum Zweiten wurde von mindestens zwei Zeugen bestätigt, dass einer der Angeklagten nach den Schläge auf den am Boden liegenden Ante P. gesagt haben soll: „Wenn du jetzt nicht Ruhe gibst, gibts noch ein paar“.

Prozesstag 3

Was wurde verhandelt?

Der Tag wird bestimmt von den Obduktionsberichten. Die erste Gutachterin, die Ärztliche Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin der Uniklinik Heidelberg, stellte die Todesursache dar: lage- und fixationsbedingte Atembehinderung, konsekutiven Stoffwechselentgleisung und Erstickung durch Einblutung in die Atemwege. Der akute Sauerstoffmangel sei zurückzuführen auf die Bauchlage, das Körpergewicht, die Fesselung der Hände auf dem Rücken, das Gewicht auf dem Rücken – beide Beamten übten Druck aus und saßen zum Teil auf Ante P. – die Stresssituation und das Blut in den Atemwegen. Bereits die Bauchlage für sich genommen würde die Atmung schon beeinträchtigen, die anderen Faktoren würden dies jeweils noch weiter verschlimmern. Ante P. hatte ein vorerkranktes Herz. Die Gutachterin ging darauf ein: Bei vorerkrankten Herzen spiele die „Gesamtschau“ der Todessituation eine wichtige Rolle – die Aufregung, die Psyche, die polizeilichen Handlungen. Ante P. habe sich unter den Polizisten stark bewegt, weil er sich in einem „Todeskampf“ befunden habe. In diesem Fall sei die Vorschädigung des Herzens nicht die ausschlaggebende Todesursache. Sie führte in ihrem Gutachten entsprechende Studien auf, die gleichartige Fälle beschreiben. Sie erwähnte, dass der Fall George Floyd Teil dieser Studie wäre. Die Verteidigung stellte daraufhin einen Antrag auf Befangenheit.

Zwei weitere Gutachter*innen, die von der Verteidigung im Nachhinein beauftragt wurden, sagten vor Gericht aus. Sie kamen zu einem ganz anderen Ergebnis.Die Blutung in der Lunge müsse nach Eintritt des Todes entstanden sein und könnte deshalb nicht Todesursache sein. Als Todesursache sei „das Herz hier ganz vorne“ (Dr. Stein). Dr. Stein erklärte, dass sie anhand eines Videos von einem Zeugen eine rötliche Färbung in Ante P.s Gesicht ausmachen könne. Dies weise darauf hin, dass Ante P. bereits vor der Fixierung am Boden besonders aufgeregt gewesen wäre. Dr. Betz beschrieb Ante P.s Herz als „jederzeit versagensbereit“. Faktoren, wie die Fixierung am Boden, schließe er als Todesursache aus – schließlich würden „dicke Menschen am Strand auch auf dem Bauch liegen können, ohne dass gleich der Notarzt kommt“. Das Blut hätte in Bauchlage auch besser ablaufen können. „Schizophrene sind mit Vorsicht zu genießen“ sagte er weiter, sie seien bekannt für „Tötungsdelikte und Suizide“.

Ein Aktenvermerk eines Zeugen von der Spurensicherung weist darauf hin, dass intern bereits vor der Untersuchung des Tatorts von einem „lagebedingten Erstickungstod“ ausgegangen wurde.

Einschätzung

Die Gutachter Dr. Stein und Dr. Beck wurden vom Richter getadelt eine sachliche Gesprächskultur zu betreiben. Die Gutachter hatten zuvor die Erstgutachterin Dr. Yen versucht zu diskreditieren – stellten Methoden und Schlussfolgerungen in Abrede oder verdrehten ihre Aussagen. Dr. Stein betonte beispielsweise mehrfach, dass Dr. Yen gesagt hätte, dass die Todesursache das Blut in den Atemwegen von Ante P. sei. Dr. Yen hatte jedoch beschrieben, dass das Blut ein Faktor von mehreren wäre, der zum Ersticken geführt habe. Dr. Stein gab an, dass sie u.a. ein Video eines Zeugen untersucht hätte – sie benutzte dabei nicht das Original, sondern filmte dieses mit ihrem Handy ab, da sie keine technische Möglichkeit zum übertragen des Originalvideos gehabt hätte. Diese Methode scheint äußerst fragwürdig. Die darin ausgemachte rötliche Färbung von Ante P.s Gesicht berücksichtigte nicht den vorherigen Angriff der Beamten mit Pfefferspray. Die Gutachter der Verteidigung haben versucht maximale Zweifel zusähen. Dr. Betz betonte, dass es sich nicht um ein „Gefälligkeitsgutachten“ handele. Er fiel vor allem durch seine diffamierende Sprache über mehrgewichtige Menschen und Menschen mit Schizophrenie, auf. Der Fokus auf Ante P.s vorerkranktem Herz scheint fragwürdig. Die Einengung der Herzkranzarterie (80%) gilt nicht als besonders hoch – sie wäre mittelgradig. Dies schränkte ihn in seinem täglichen Leben nicht ein.

Nach der Befragung eines Polizeiauszubilders über den Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen, bleibt die übergeordnete Frage offen, warum die Polizei bei Zwangseinweisungen in eine Psychiatrie einbezogen wird.

Prozesstag 4

Was wurde verhandelt

Im Zuschauerraum befanden sich mehrheitlich zivile Beamten und zudem zwei Beamte in Dienstmontur mit Dienstwaffen. Der leitende Ermittler war vorgeladen und gab Einblick in die Ausbildung der Angeklagten. Diese ständen noch am Anfang. Er stellte die Videos der Zeug*innen vom Marktplatz zusammen – etwa 1,5 Stunden Material. Im Zusammenschnitt sei zu sehen, dass Ante P. 5 Minuten und 21 Sekunden „ohne sichtbare Reaktion“ auf dem Boden lag und keine Hilfeleistung erhielt.

Neben Polizeibeamten, die im Nachhinein auf dem Marktplatz eintrafen, sagten auch weitere Zeug*innen vom Marktplatz aus. Die Bewegungen von Ante P. werden abwechselnd beschrieben als „aggressiv“, „abwehrend“ und dienten dazu sich „loszureißen“. Ante P. wollte in Ruhe gelassen werden und versuchte sich vor Erreichen des Marktplatzes immer wieder von den Angeklagten zu entfernen. „Der kommt nicht weit“ soll einer der angeklagten Polizisten dabei gesagt haben.

Die Nebenklage stellte zwei Befangenheitsanträge gegen die Gutachter der Verteidigung Dr. Betz und Dr. Stein. Dabei berief sich die Nebenklage auf zwei Verhaltensweisen von Dr. Betz vor Gericht. Dieser hatte ausgesagt dass er bei seiner Begutachtung stets die rechtliche Unschuldsvermutung im Hinterkopf behalte – laut Nebenklage eine Kompetenzüberschreitung. Ein Gutachter habe „sich nicht die Brille des Gerichts aufzusetzen“. Dr. Betz betätigte vor Gericht auch menschenfeindliche Aussagen über mehrgewichtige Menschen und Menschen mit Schizophrenie (siehe Prozesstag 3). Dieser „befremdliche Vergleich“ sei unsachlich, abwertend und absurd.

Zur Befangenheit von Dr. Stein wurde ihre aggressive Art der Zeugenbefragung benannt – diese richtete sie vor allem gegen den behandelnden Arzt von Ante P. Die Nebenklage vermutete, dass sie dessen Argumentation lenken wollte. Ihr Gutachten über die Todesursache von Ante P. weise außerdem Widersprüche auf. Eine ihrer Methoden bei der Untersuchung eines Videos sei zudem unprofessionell gewesen (siehe Prozesstag 3). Hinzu kam eine persönliche Differenzen zwischen Dr. Stein und der Gutachterin der Gerichtsmedizin Dr. Yen. Dr. Stein soll 2013 Teil einer Verleumdungskampagne gegen sie gewesen sein. Dr. Stein wurde damals suspendiert und dann gekündigt. Nach Argumentation der Nebenklage werfe dies erhebliche Zweifel an der Unvoreingenommenheit und Objektivität von Dr. Stein auf.

Direkt im Anschluss baute die Verteidigung ihren Befangenheitsantrag gegen die Gerichtsmedizinerin Dr. Yen aus (siehe Prozesstag 3). Diese habe in ihrem Bericht wiederholt wertende Sprache verwendet und die Inhalte einer von ihr zitierten Studie falsch wiedergegeben.

Der Richter kündigte an das Verfahren vorzeitig beenden zu wollen – am 1. März.

Einschätzung

Die Zeug*innen auf dem Marktplatz werden von Beamten als aufgebracht und besorgt beschrieben, andere meinen von Beleidigungen gegenüber der Polizei gehört zu haben. Polizeibeamten betonten vor Gericht, dass sie sich bedrängt und bedroht gefühlt haben. Dem Gegenüber stehen die Aussagen der Passant*innen. Es wird beschrieben, dass Ante P. in Ruhe gelassen werden wollte. Die Situation sei eskaliert durch Berührungen, dem Pfeffersprayeinsatz und der Verfolgung von Ante P. Er habe in keiner Weise Kontrolle über die Situation gehabt und wirkte deutlich psychisch verwirrt. Die unterschiedliche Behandlung der Beamten als Zeug*innen und der von Passant*innen ist deutlich. Polizeibeamten haben einen Vertrauensvorschuss.

Der Befangenheitsantrag der Verteidigung scheint sich zu wiederholen. Mit Blick auf die Studie, auf die sich Dr. Yen berief, scheint der Antrag kaum Grundlage zu haben. Dennoch machen die Angeklagten einen zunehmend gelassenen Eindruck.

Prozesstag 5

Was wurde verhandelt

Nach Abschließen der Beweisaufnahme verkündete die Kammer ihre Beschlüsse über die Anträge der Nebenklage und der Verteidigung aus Prozesstag 1 und 4 und der Staatsanwalt verlas sein Plädoyer.

Alle vier Anträge wurden zurückgewiesen:

  • Feststellungsantrag (Prozesstag 1): Die frühe Aktenfreigabe durch die Staatsanwaltschaft war rechtens.
  • Befangenheitsantrag gegen Gutachter Dr. Betz (siehe Prozesstag 4): Dr. Betz habe nicht seine Kompetenzen überschritten und hätte die Todesumstände nicht verkürzt dargestellt. Dass Dr. Betz die Todesumstände mit "am Strand liegenden Dicken" verglich und pauschal meinte, "Schizophrene sind mit Vorsicht zu genießen", da sie bekannt seien für "Tötungsdelikte und Suizide", war für das Gericht keine fehlende Sachlichkeit, sondern "salopper Vortragsstil".
  • Befangenheitsantrag gegen Gutachterin Dr. Stein (siehe Prozesstag 4): Das Gericht sehe keine Hinweise auf mangelnde Fachkompetenz oder Voreingenommenheit. Zu der Tatsache, dass Dr. Stein in der Vergangenheit Teil einer Diffamierungskampagne gegen die Rechtsmedizinerin Dr. Yen war, entschied das Gericht, dass 1. im angesprochenen Zeitungsartikel keine Namen genannt würden und 2. dass sich Befangenheit aus dem Prozess selbst ergeben müsse, nicht aus davon unabhängigen Umständen.
  • Befangenheitsantrag gegen Rechtsmedizinerin Dr. Yen (Prozesstag 3 und 4): Das Gericht entkräftete alle von der Verteidigung angebrachten Punkte, sowohl was die medizinische Einschätzung anging, als auch die von Dr. Yen verwendete Sprache. Ihre Beschreibung der Umstände als "gewaltsamen Übergriff" durch die Angeklagten und "Todeskampf" von Ante P. seien im Rahmen der Fakten eine legitime rechtsmedizinische Einschätzung. Der Vergleich mit dem Fall "George Floyd" sei "ersichtlich und unmissverständlich" auf die medizinische Ebene bezogen gewesen.

Im Plädoyer bezog sich der Staatsanwalt auf die Gutachten der von der Verteidigung beauftragten Zweitgutachter Dr. Stein und Dr. Betz. Es könne, so der Staatsanwalt, nicht mit ausreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass Ante P. in direkter Folge der Schläge verstarb. Die Zweitgutachten hätten genügend alternative Möglichkeiten aufgetan, vor allem das vorbelastete Herz sei ein wesentlicher Faktor. Ante P. sei bereits früher an diesem Tag gestresst und nervös gewesen, sodass man nicht sagen könne, welches Detail des komplexen Tatgeschehens letztendlich den Tod verursacht hätte. Auch könne nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass man Ante P. noch hätte helfen können. Daraus zieht der Staatsanwalt die Schlussfolgerung, dass er den Tod Ante P.s keinem der Angeklagten zu Last legen könne. Als Anklagepunkte blieben die Körperverletzung im Amt durch den Einsatz des Pfeffersprays sowie versuchte gefährliche Körperverletzung im Amt durch die vier Schläge auf den Kopf Ante P.s. In seiner Darstellung betonte er, dass Ante P. für alle beteiligten ersichtlich keine akute Gefahr für die Beamten gewesen sei, dass er klar in einer psychischen Ausnahmesituation war und dass er eindeutig immer wieder versuchte, die Situation zu verlassen. Der Auftrag der Beamten, ihn wegen Selbstgefährdung in das ZI zurückzuführen, würde nicht rechtfertigen, Ante P. durch den Einsatz selbst zu gefährden. Die Angeklagten könnten sich auch nicht auf Selbstverteidigung berufen, weil sie nicht die mildesten Mittel nutzten, Ante P. zu keinem Zeitpunkt einen ersten Angriff ausübte oder androhte, und weil die mangelnde Zurechnungsfähigkeit von Ante P. den Angeklagten gesetzlich eine Verantwortung für seinen Zustand übertrug. Spätestens die letzten zwei Schläge seien ganz klar nur ausgeübt worden, um den "Widerstand zu brechen" und wären nicht zu rechtfertigen.

Der Staatsanwalt forderte für den Angeklagten Z. einen Freispruch und für den Angeklagten J. eine Verurteilung wegen Körperverletzung und versuchter gefährlicher Körperverletzung im Amt – 6 Monate Haft für den Angeklagten J. mit Aussicht auf Bewährung. Mildernde Umstände die hohe psychische Belastung des Angeklagten durch den Prozess und das Fehlen von Vorstrafen. Gleichzeitig forderte er, dass der Prozess eine Präventivwirkung haben müsse, da Strafprozesse in Verbindung mit "Schockschlägen" bei Polizeieinsätzen ein häufiges Vorkommnis wären.

Einschätzung

Die Videos von dem Tatgeschehen wurden an diesem Prozesstag nochmals in voller Länge im Gerichtssaal gesichtet. Immer wieder waren die Schläge zu sehen, das Pfefferspray, Ante P. auf der Flucht, Ante P. auf dem Boden. Auffällig war vor allem, dass die umstehenden Menschen nachdem Ante P. in Handschellen regungslos auf dem Boden lag, auf Anweisung des einen angeklagten Polizisten zügig Platz machten. Ante P. lag lange Zeit von den Beamten unbeachtet auf dem Boden, obwohl sich die Menschenansammlung schon zurückgezogen hatte. Die Videos decken somit nicht die Aussagen der angeklagten Polizeibeamten und der Polizist*innen, die als Zeugen geladen waren, dass die Stimmung durchgehend bedrohlich und bedrängend gewesen wäre. Der Staatsanwalt ging davon aus, dass die Polizisten durch die aggressiven und lauten Zeug*innen abgelenkt und überfordert gewesen seien, und dass Ante P. vielleicht noch leben würde, hätte es weniger „Schaulustige“ gegeben. Nicht weil es so viele Zeug*innen gab sei es zu einem Gerichtsprozess gekommen, „sondern trotzdem“. Die Täter-Opfer Umkehr löste im Zuschauerraum spontane Ausrufe der Wut und Missmut aus. Die geringe Strafforderung für beide Angeklagten hätte zur Folge, dass sie weiterhin als Polizisten im Amt bleiben würden. Fragwürdig ist, ob diese „weitreichenden“ Konsequenzen bei einem derart wiederkehrendem Problem – „Präventivwirkung“ – entfalten können.

Schlusswort Mara M., Mutter von Ante P.

Hohes Gericht,

Ich bin in diesem Prozess den beiden Männern gegenüber gesessen, die für den Tod meines lieben Sohnes Ante verantwortlich sind.

Während der Gewaltanwendung gegen ihn hat er gerufen „Holt Richter, ich bin Ante Paponja“ und er hat immer wieder „Hilfe, Hilfe, Hilfe“ gerufen und geschrien vor Schmerzen.

Niemand kam um ihm zu helfen. Sie haben stattdessen weiter meinen Sohn gequält bis er nicht mehr geatmet hat.

Mein Sohn ist voller Qualen gestorben.

Die Polizisten haben nicht aufgehört oder gegen seinen Tod etwas unternommen, bis er nicht mehr atmete.

Als ich nach dem Vorfall ins Klinikum kam, hatte Dr. Walther mir mitgeteilt, mein Sohn hatte nicht mehr gelebt, als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

Es war für mich zusätzlich sehr schwer zu sehen, dass bei einigen schlimmen Details, die in diesem Prozess besprochen wurden, teilweise von den Anklagten und ihrer Verteidigerin gelächelt wurde.

Insbesondere der hier einmal angeführte Strandvergleich, war an Bodenlosigkeit nicht zu übertreffen. Für mich ist mein Sohn dadurch noch ein weiteres Mal gequält worden und gestorben.

Dass er ausgerechnet durch Intervention zweier Polizisten gestorben ist, macht seine Geschichte noch schwerer zu begreifen.

Für meinen Sohn war die Polizei immer Freund, Helfer und Beschützer. Das hat er sehr oft gesagt, mein Sohn hatte großes Vertrauen in die Polizei.

Für mich war der Prozess sehr schwer. Ich bin 1973 als Gastarbeiterin nach Deutschland gekommen und habe mich von Anfang an in Deutschland sicher und geborgen gefühlt. Ich war sehr froh hierher gezogen zu sein.

Als mein Sohn mit 22 Jahren an einer Psychose erkrankte, war ich froh, dass Ante hier viel Hilfe und Unterstützung erhielt. Ich glaube diese Hilfe hätte er so nicht überall bekommen.

Obwohl Ante es nicht leicht hatte in seinem Leben, blieb er stets positiv und konnte ein erfülltes Leben führen. Ante hat gerne gelebt.

Er war ein fröhlicher und geselliger Mensch mit einem sonnigen und liebevollen Gemüt.

So werde ich ihn immer in Erinnerung behalten. Seine Fröhlichkeit und Wärme werde ich bis an mein Lebensende vermissen.

Meinen Sohn Ante kann mir nichts mehr zurückbringen. Aber ich vertraue darauf, dass dieses Gericht diese beiden Männer nach geltendem Recht zur Verantwortung zieht.

Denn nur aufgrund seiner Erkrankungen wäre mein Sohn ohne das Einwirken der Angeklagten nicht gestorben, nicht an diesem Tag und nicht an diesem Ort.

Ich frage das Gericht und alle daher: wäre Ante Ihr Sohn, wie würden Sie entscheiden?

Erklärung Antonia, Schwester von Ante P.

Es ist ja leider nicht so, dass der Tod meines Bruders Ante ein Einzelfall ist, eine bedauerliche Fehlleistung, die hier den Polizisten unterlaufen wäre. Allein in Mannheim hat es in den letzten anderthalb Jahren drei Todesfälle durch Polizeieinsatz gegeben. Ich kann nicht erkennen, dass hier irgendetwas gegen diese Spur des Todes durch Stadt oder Land unternommen würde.

Die Polizei ist nicht irgendwer, nicht irgendein Bürger, der sich falsch verhalten hätte. Sie sind Uniformträger, sie sind bewaffnet, sie stellen die Staatsgewalt dar. Sie haben Macht. Wenn sie die Macht missbrauchen, dann ist das eine Gefahr für andere Menschen. Diese Gefahr bleibt bestehen, wenn ein Signal ausgesandt wird, das bedeutet, jemand hat jemanden zu Tode gebracht, trägt eine Uniform, und kommt davon! Ein verheerendes Signal. Sollen wir uns als Bürgerinnen und Bürger vor der Polizei fürchten oder ist sie von uns als Bürgerinnen und Bürger beauftragt!?

Es ist in den Videos zu sehen, dass zahlreiche Passantinnen und Passanten am 2. Mai 2022 erkannten, dass etwas Schlimmes geschah; dass die Polizei etwas tat, was nicht sein durfte. Es wurde vor Gericht davon berichtet, dass Umstehende empört waren und riefen, die beiden Polizisten sollten aufhören. Durch ihre zahlreichen Zeugnisse konnte es überhaupt zur Anklage kommen. Jedes Kind weiß, dass man jemanden, der schon zu Boden gegangen ist, nicht weiter niederkämpfen darf. Dass da Schluss ist. Das weiß man, ohne zu wissen, ob eine Straftat vorhergegangen ist oder nicht. Laut Statistiken zeigt sich, dass psychisch erkrankte Menschen überwiegend keine deliquenten Verhaltensweisen zeigen. Es ist so wichtig zu hören, dass da die umstehenden Menschen Zivilcourage aufbrachten. Mein Bruder hatte keine Straftat begangen. Ich zitiere aus einer Zeugenaussage: „Lasst den Mann los, er hat doch nichts getan“. Und: „Es reicht. Es reicht. Hört auf.“ Mir kommt auch der Gedanke an George Floyd. Als die umstehenden Menschen rufen „Hört auf“, ist mein Bruder bereits auf dem Boden liegend fixiert: U.a. durch minutenlanges Knien auf den am Boden Liegenden, dazu die Faustschläge, das Blut.

Mein Bruder war ein Deutscher, geboren in Heidelberg, und ein kroatischer Bürger, und ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung. Und obendrein – arm. Ein armer Bürger. Ich frage mich, wieviel wert ist welches Menschenleben und gibt es hier unterschiedliche Standards? Wer stirbt am meisten? Und wie kommt es, dass Personen, wenn sie im Rahmen ihrer psychischen Erkrankung durch medizinisches Personal fixiert werden mussten, nicht sterben – weder an „Vorerkrankungen“ noch an etwaiger Gewalttätigkeit des Personals.

Es ist sehr bedauerlich, dass die Polizei nicht auf die umstehenden Menschen hörte. Dann wäre mein Bruder noch am Leben, und wir säßen jetzt nicht hier bei Gericht als Angehörige. Wir sind traurig, wir sind wütend, verloren, alleingelassen und wir setzen uns hier einem Prozess aus, Woche um Woche – ein sehr belastendes Verfahren, uns belastet es erneut. Warum tun wir uns das an? Weil wir uns als Familie erhoffen, dass es eine Gerechtigkeit geben kann, eine Strafe für diejenigen, die uns meinen Bruder genommen haben. Wir erwarten eine angemessene Verurteilung wegen einer sinnlosen abscheulichen Tat.

Ich habe diese Hoffnung auch, weil ich den Sinn eines Strafverfahrens auch darin sehe, dass es um diejenigen gehen muss, die geschädigt wurden. Geht es um uns? Geht es darum, dass ich seit dieser Tat mit Panikattacken zu kämpfen habe, dass ich unter Schlaflosigkeit leide, dass ich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelte? Uns fehlt mein Bruder. Und ich habe mittlerweile Angst, selbst in eine Krise zu geraten, die dann dazu führen könnte, dass ich mit der Polizei zu tun bekommen könnte. Ich kann unter gar keinen Umständen mehr mit der Polizei zu tun haben, obwohl ich das in meinem Beruf als Sozialarbeiterin tun müsste. Ich hatte mich besonders mit der Betreuung psychisch erkrankter Menschen beschäftigt. Sie können sich die Krankheit nicht aussuchen und die Reduzierung einer Strafe wegen Tötung eines psychisch kranken Menschen faktisch auf einen minimalen Symbolgehalt – de facto Straflosigkeit bei einer solchen Tat, das ist es, was Angst macht. Es wäre ein fatales Signal.

Ich habe mich mit Opfern und Angehörigen von Polizeigewalt vernetzt. Es gibt viele.

Ich frage mich, ob die Tatsache, dass es sich bei den mutmaßlichen Tätern um Polizisten handelt, zu einem Bonus in den Augen der Staatsanwaltschaft führt? Darf das sein? Dass jemand anders beurteilt wird, weil er ein Amtsträger ist!? Das ist doch umso wichtiger zu verdeutlichen, dass ein Amtsträger keinen psychisch kranken Menschen so behandeln darf. Die Polizisten wussten vor dem Einsatz davon, dass es sich um einen Schutzbefohlenen handelte. Da wäre ja besondere Umsicht angebracht gewesen. Dieser Polizeieinsatz hätte auch einen psychisch gesunden Menschen in Todesangst gestürzt. Was erst hat dieser überfallartige Einsatz für meinen Bruder bedeutet! Mein Bruder ist in dieser Verhandlung als Mensch gar nicht vorgekommen. Müssen denn jetzt alle Familien, in denen sich ein psychisch erkrankter Angehöriger befindet, Angst haben, dass so etwas auch ihren Familienmitgliedern passieren kann?! Sie sind es doch, die von Staats wegen in besonderer Weise geschützt gehören.

Wir waren eine Familie, eine richtige Familie. Wir kamen an den Wochenenden zusammen, meine Mutter kochte für alle, wir haben miteinander gelacht und waren fröhlich. Wir lachen nicht mehr. Wir sind traurig. Meine Mutter hat keine Kraft mehr. Sie ist nicht mehr dieselbe.

Ich hatte eine neue Stelle als Heimleitung für stationär betreute Menschen mit psychischen Erkrankungen angenommen. Ich bin Sozialpädagogin und ausgebildete Familientherapeutin. Mein Bruder war stolz auf mich. Jetzt habe ich keine Lebensfreude mehr, ich konnte die neue Stelle nicht mehr bewältigen, kaum noch meinen Alltag. Ich habe Mühe aufzustehen. Jetzt mache ich die Spaziergänge mit dem Hund, den ich für meinen Bruder kaufte. Er sollte sein Gefährte sein. Keine fünf Monate konnte er den Hund erleben. Keine Wochenenden mehr bei meiner Mutter, mein Bruder ruft nicht mehr an. Wir vermissen ihn. Ich vermisse ihn. Die Bilder, wie er zu Tode gebracht wurde, verfolgen mich.

Sollen wir in diesem Verfahren nicht auch des Opfers gedenken, uns vergewissern, wer er war, ist das nicht selbstverständlich? Mein Bruder war ein lieber Mensch, dem jede Art von Gewalt fern lag. Das sagen alle über ihn, seine Kollegen, seine Freunde. Und er war sehr sozial, wollte immer etwas für andere tun.

Nachdem er als junger Erwachsener erkrankte, hat er 25 Jahre lang selbständig trotz und mit seiner Krankheit leben können. Unbegleitet, er war stellvertretender Sprecher der Beschäftigten der Arbeitstherapeutischen Werkstätte Mannheims. Er wusste auch um seine Rechte Bescheid, er glaubte an den Rechtsstaat: Die letzten Worte, die er in seinem Leben spricht – wir sehen das in einem Video – sind: „Ich bin Ante Paponja“. „Richter“, „Ich will einen Richter“.

Nicht nur das Leben meines Bruders wurde ausgelöscht. Niemals ist nur das unmittelbare Opfer der Betroffene, wir als Familie sind betroffen. Ich bin seitdem so sehr geschädigt, meine Seele zerstört. Ich werde selbst in die Sozialsysteme fallen, keine Aussicht, wann ich meinen Beruf wieder aufnehmen könnte – Kümmert das jemanden? – Es wurde dagegen sehr viel darüber gesprochen, wie die weitere wirtschaftliche Existenz der Angeklagten aussehen könnte.

Mir ist außerdem eine Merkwürdigkeit aufgefallen. Polizeipräsident Kollmer erklärte nach dem Vorfall, keine Bezugskürzung vorzunehmen, um die Angeklagten vor finanziellen Einbußen zu bewahren. Ich beziehe mich auf eine Erklärung vor dem Ausschuss des Innern Baden-Württemberg vom 21.9.2022. Nun erfahre ich, dass die Bezüge des einen Angeklagten jetzt aber um 50% reduziert sind, und damit gehen die Kosten für die zusätzlich eingeholten medizinischen Gutachten zu Lasten der Staatskasse. Da gibt es doch eine sehr besondere Fürsorge für die eigenen Kollegen. Oder irre ich mich da?

Im bereits erwähnten Ausschuss des Inneren in Baden-Württemberg erklärt der Zuständige ausdrücklich, die Polizei sei insbesondere darin geschult, „Lagebedingten Erstickungstod“ zu vermeiden. Auf dieser Sitzung stand der Fall meines Bruders auf der Tagesordnung. Ich zitiere: „Ein in der Aus- und Fortbildung sowie im Einsatztraining wesentliches Element ist hierbei selbstverständlich auch die Sensibilisierung sowie das Training zur Vermeidung eines lagebedingten Erstickungstodes, das in Baden-Württemberg bereits seit den 1990er Jahren implementiert ist.“ Weitere Ausführung hierzu: „Die Sensibilität bei den Kollegen, bei unmittelbaren Zwangsmaßnahmen auf die Gefahr des lagebedingten Erstickungstods zu achten, darauf zu achten, dass die Atemwege frei bleiben, das ist für uns oberste Prämisse, wenn die Kollegen in den Einsatz gehen.“

Ich wiederhole: Ohne diesen Polizeieinsatz wäre mein Bruder noch am Leben. Die von der Verteidigung eingebrachten Gutachten zum Gutachten der Rechtsmedizin Heidelberg sollen die Kernaussage „Tod durch Fremdeinwirkung“ aushebeln und dem Opfer selbst die Todesursache zuschreiben. Bei der Obduktion durch das rechtsmedizinische Institut waren diese Gutachter nicht dabei. Jetzt Vorerkrankungen als mögliche Todesursache ins Feld zu führen, das ist nicht nur unzutreffend, sondern auch beschämend und soll die Tat banalisieren. Eine nachträgliche Verhöhnung des Opfers. Die Todesursache wird dem Geschädigten selbst zugeschrieben. Das ist eine ungeheuerliche Täter-Opfer-Umkehr. Es ist doch der Staat selbst, der dafür verantwortlich ist, dass eine Gewalttat n i c h t geschieht und dass die Bürgerinnen und Bürger geschützt sind. Wenn der Staat das nicht gewährleistet, dann liegt die Verantwortung bei ihm. Das gilt für jede Tat, in der ein Bürger zu Schaden kommt und zum Beispiel das Opferentschädigungsgesetz trägt dem Rechnung. Im Fall meines Bruders wird die Tat sogar durch Vertreter des Staates verursacht, und dann soll dafür Verantwortung in geringerem Maße gelten!? Aufgrund welcher höheren Ziele soll hier polizeiliches Handeln gedeckt werden? Damit kann ich mich nicht einverstanden erklären.

Ohne diese durch nichts, durch absolut gar nichts zu rechtfertigende Gewalttätigkeit der Polizisten wäre mein Bruder noch unter uns. Bitte schützen Sie uns vor solchen gewalttätigen Amtsträgern. Laut Zeugenaussagen sagt der eine mutmaßliche Täter: „Wenn du keine Ruhe gibst, gibt` s noch ein paar.“ „Weit wird er nicht kommen“, eine andere Polizistenaussage. In einem Video ist zu sehen, wie der Polizist nach dem Schlagen grinst. Solche Polizisten sind eine Zumutung für uns, für alle Bürgerinnen und Bürger. Müsste es nicht auch im Interesse von Polizei und Justiz sein, hier höchstmögliche Unabhängigkeit zu praktizieren? Deutschland hat schon lange ein Defizit, was die Fehlerkultur innerhalb der Polizei betrifft und hat es bislang versäumt, unabhängige Beschwerde- und Meldestellen einzurichten. Im Fall meines Bruders hat sich die Tat durch die vielen aufmerksamen Zeugnisse, Videos und Zeugen nicht mehr vertuschen lassen. Jetzt liegt es an der Justiz, diese Aufmerksamkeit entsprechend zu würdigen. Aus einer Studie der Universität Bochum zu "Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte" geht hervor, dass die Staatsanwaltschaften jährlich mehr als 2.000 Strafverfahren gegen mehr als 4.000 Polizist*innen erledigen. Das Dunkelfeld hingegen ist mindestens fünf Mal so groß. In nur 6% der Fälle wird überhaupt Anklage erhoben, 86% der Fälle werden eingestellt und die restlichen 8% wissen gar nicht, wie das Ermittlungsverfahren ausgegangen ist.[1]

Ich würdige ausdrücklich, dass jetzt das Anklageverfahren überhaupt geführt wird. Wem aber glauben die meisten Richterinnen und Richter, wenn es um die Polizei geht. Der Polizei selbst. Warum ist das so? Sind sich Polizei und Justiz dermaßen nahe? Ich bitte Sie, seien Sie uns nahe, den Bürgerinnen und Bürgern, meiner Familie, den Geschädigten.
Polizisten bekommen umgehend das Angebot therapeutischer Betreuung. Was ist aber mit uns? Ich habe monatelang auf einen Therapieplatz warten müssen. Hat uns jemand gefragt, wie es uns geht? Wo sind die Hilfen, wenn wir die Wohnung des Bruders ausräumen müssen, die Beerdigungskosten tragen, die Einkommenseinbußen überleben müssen? Ich erfahre davon, dass einer der Angeklagten Schmerzensgeld erhielt, weil er Hass und Feindschaft aus dem Netz erntete, für das, was er tat. Wo ist an uns gedacht? Keiner hat uns gefragt, wie es uns geht und ob wir Hilfe benötigen. Das ist schlicht nicht vorgesehen, schon gar nicht durch die Verursacher. Sie sind absolut ohne Reue. Man kann den Eindruck gewinnen, sie treten eher triumphierend auf.
Von Seiten der Polizei und von Seiten der Landesregierung hat sich bei uns niemand entschuldigt. Niemand übernimmt die Verantwortung für das, was geschehen ist. Wie kann das sein? Das bürdet uns eine zweite Last auf – die nach der Tat. Eine Last, die den Heilungsprozess beeinträchtigt, die es uns noch schwerer macht, weiterzuleben.

Ich dachte, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren führt, weil den Geschädigten Gerechtigkeit widerfahren soll und nicht um möglichst die mutmaßlichen Täter zu rehabilitieren. Ich habe kein Vertrauen mehr in die Polizei und in den Rechtsstaat. Sorgen Sie dafür, dass Polizisten nicht wieder so handeln können. Das Strafmaß kann ohnehin der Schwere der Tat kaum angemessen entsprechen. Mein Bruder kommt nicht mehr zu uns zurück. Aber sorgen Sie dafür, dass Täter entsprechend bestraft werden und wir als Bürger nicht erneut solchen Leuten im Amt ausgesetzt sind. Das ist es, was ich mir von diesem Gericht wünsche. Ich möchte eine gerechte Verurteilung, damit dies keiner weiteren Familie widerfährt.

[1]: Zwischenbericht zum Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen" (KviAPol). 2. Auflage, 26.10.2020, Lehrstuhl für Kriminologie (Prof. Dr. Singelnstein) Ruhr-Universität